Pionierin der Medien- und Performancekunst

In einer Garage und in einem Hotel zeigt das KW-Institut Werke der US-amerikanischen Künstlerin.

Berlin, Mai 2018. Frauen mussten sich in der Kunst lange Zeit ihre eigenen Wege suchen, denn Malerei, Skulptur, die klassischen Genres waren zumeist von Männern besetzt und dominiert. So begannen sie in den 60er Jahren, sich eigene Experimentierfelder zu erobern, rückten Körper und Psyche, Seelenzustände und intelligente Künstlichkeit in den Fokus ihrer Kunst: mit den Mitteln der neuen Medientechnologien, mit Video, Film und Performances. Medien sind Extensionen des menschlichen Körpers, stellte schon Marshall McLuhan in jener Zeit fest. Das gilt bis heute, Handy-Nutzung und die damit verbundene Selbstbezogenheit, belegen es.

Eine Pionierin im Kosmos der Selbstbespiegelung ist die US-Amerikanerin Lynn Hershman Leeson. Und wie um ihre feministisch grundierte Konzeptkunst noch zu konterkarieren, zeigen die Kunst-Werke ihre Film- und Rauminstallationen nun an einem sehr männlich konnotierten Ort: in einer ehemaligen Garage, genannt The Shelf. Die Ausstellung in dem noch etwas nach Autoschmiermittel riechenden Ambiente gibt einen Überblick über ihr teils visionäres Werk der letzten fünf Jahrzehnte. Leeson, 1941 in Cleveland, Ohio, geboren, wird gerade wiederentdeckt. In der Kunstwelt sind Wiederentdeckungen ja so eine Art Fetisch, bei Leeson aber ist es mehr: Sie ist absolut Prä-Youtube, Prä-Internet, und in ihrem Werk dreht sich von Anfang an alles um Konstruktion und Dekonstruktion von Identität und Körper, um Zurschaustellung, biotechnologische Durchdringung und Rolleneinnahme in einer frauenfeindlich und technologisch vermittelten Welt.

Lynn Hershman Leeson, Lorna, 1979–82, Installationsansicht in der Ausstellung First Person Plural, KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2018, Courtesy die Künstlerin und Bridget Donahue, New York, Foto: Frank Sperling
Lynn Hershman Leeson, Lorna, 1979–82

Foto: Frank Sperling

So spielt der titelgebende Film „First Person Plural“ (1984–96), zerteilt auf vier Großleinwände in der riesigen Halle, in der Tradition feministischer Performance-Kunst der 70er Jahre. Er zeigt Leeson mehrfach in Nahaufnahme allein in einem TV-Studio. Multiplikation und Fragmentierung ihrer Persönlichkeit stehen im Zentrum des als Filmtagebuch angelegten Langzeitprojekts. Es offenbart das Ringen der Künstlerin, ihre Transformation und Transzendenz auf fast schizophrene Weise. Die Bekenntnisvideos legen psychische Narben offen, die auf körperlichen und sexuellen Missbrauch in der Kindheit fußen, sie erinnert sich an Krankheit und häusliche Gewalt und an ihren Kampf um Selbstakzeptanz. Das Persönliche bricht sie auf durch Nachrichtenmeldungen der damaligen Zeit, und schneidet damit an den Grenzen privater und öffentlicher Erfahrungsräume.

Leesons Aufspaltung der Persönlichkeit hat etwas technoid schmerzhaft Sezierendes. In „A Commercial for Myself“ (1978) oder „Seduction of a Cyborg“ (1994) splittet sie Geräte und das Bildschirm-Bild selbst in Parallelhandlungen durch Verdopplungen und Überblendungen auf. Ihre Kritik an Überwachung verweist zudem auf die Kehrseite unserer Lust an Apparaten und ruft nach heutiger Lesart Assoziationen zu unserem Gebrauch von smarten Geräten hervor. Wie unvoreingenommen die Künstlerin mit Technologie umging, zeigt sich in „Lorna“ von 1983, dem ersten interaktiven Laser-Disk-Kunstwerk, eine frühe Form des Computerspiels. In einem Wohnzimmer-Set können Besucher mit der an Agoraphobie leidenden Lorna interagieren, sie erfahren über ihre Ängste und Träume, entscheiden per Knopfdruck für Lorna – bis hin zur Auswahl von drei Todesarten: durch Selbstmord, durch Schuss in das TV-Gerät oder durch Verlassen des Raums.

Am weitesten aber trieb Lynn Hershman Leeson das Identitätsspiel in der Kunstfigur Roberta Breitmore. Mit eigenem Führerschein, Psychoanalyse und Geburtsurkunde ausgestattet, wird Roberta später auf theatralische Weise sterben und verbrannt. Die Existenz dieses Alter Egos begann im „Dante Hotel“ (1972–73), Leesons erster ortsbezogener Installation. Hotels, Schaufenster, Kaufhäuser, Apartments wählte die Künstlerin damals nicht nur freiwillig: Ihre Arbeiten waren in Kunstinstitutionen nicht erwünscht. Bis Mitte Juni steht nun die Re-Inszenierung von jenem Zimmer bereit, im „Hotel Novalis“. Besucher können sich mit Abgabe ihrer DNA an der Rezeption an Leesons forensischem Experiment beteiligen.

Von Irmgard Berner

Beitragsfoto: Lynn Hershman Leeson, First Person Plural, the Electronic Diaries of Lynn Hershman, 1984–96. Foto: Frank Sperling